Eine Kindheit - nach den Erzählungen einer Freundin
Ich bin 1979 geboren. Ich nannte meine Mutter Margit und meinen Vater Bernd. Bis ich fünf Jahre alt war, nannte man mich Leni, danach bestand ich auf Lena.
Vor einem Winter kaufte Margit hundert Kilo Kartoffeln.
Als der Winter vorbei war, hatten wir zwei alle Kartoffeln aufgegessen.
Margit liebte mich, fast zu sehr. Und sie war launisch: Manchmal warf sie mir vor, ihr ein Hindernis zu sein, sie sagte, sie habe meinetwegen zu wenig Zeit, ihren Interessen nachzugehen.
Einmal umarmte sie mich und sagte: „Lena, was täte ich nur ohne dich?!“ Ich (etwa fünfjährig) antwortete: „Mehr lesen.“
Dinge, die es in meiner Kindheit in Margits Haushalt nicht gab:
- eine Geschirrspülmaschine
- einen elektrischen Mixer
- einen Mikrowellenherd
- einen Fernseher
- einen Wäschetrockner
- einen Staubsauger
- eine Stereoanlage.
Man lebt gut ohne diese Mod Cons.
Was es bei uns immer gab:
- reichlich Bücher
- warme Gastfreundschaft
- viel Mutterliebe.
Ohne diese Dinge wollte ich auch heute nicht leben.
Vor meinem ersten Schultag war ich aufgeregt und ängstlich und konnte nicht schlafen. Margit sagte zu mir: „Denk an die Nordkette. Die wird morgen auch noch stehen.“ Daraufhin schlief ich sofort ein.
Bernd war Weltmeister im Erfinden von Kosenamen. Er nannte mich zärtlich Bartavelle, Schraube oder auch Schraubele – dies wohl, weil er als Mechaniker arbeitete. Manchmal erfand er auch Wortspiele. Als ich noch sehr klein war, hielt er mich einmal im Arm und sagte: „Ich bin der Begründer des Leni-nismus!“ Im Supermarkt stand er einmal vor dem Weinregal, rief: „Was sehen meine rotgeweinten Augen?!“ und stellte etliche Flaschen Rotwein in den Einkaufswagen. Einmal standen Margit, Bernd und ich im Garten, er redete mit mir und nannte mich Schraube. Dann strahlte er Margit an und sagte: „Und jede Schraube braucht auch eine Mutter!“ Eine sehr zärtliche Bemerkung – erstaunlich, denn zu diesem Zeitpunkt lebten sie schon lange nicht mehr zusammen.
Bernd hatte ein Auto. Er rauchte Filterzigaretten. Er ging häufig essen. Seine finanzielle Lage war immer katastrophal. Alimente zahlte er wenig und unregelmäßig.
Margit hatte kein Auto. Sie rauchte Selbstgedrehte. Es gab Tage, an denen sie im Supermarkt stand und sich fragte: „Kaufe ich Milch oder Brot?“ Sie hatte nie Schulden, und sie hätte Bernd nie wegen der ausständigen Alimente verklagt – was könnte das anderes sein als ein Zeichen für ihre verbliebene Sympathie?!
Einmal, gegen Ende der ersten Klasse Gymnasium, holte mich Margit von der Schule ab. Das war ungewöhnlich, denn dafür hatte sie normalerweise keine Zeit. Sie ging mit mir in den nahegelegenen Park und sagte ernst: „Setz dich hin.“ Ich setzte mich auf eine Bank, sie setzte sich neben mich und sagte: „Bernd ist tot.“ Ich brach in Geschrei und Tränen aus. Die Wunde, die Bernds Tod gerissen hat, ist verheilt, die Narbe jedoch wird immer bleiben.